Wie man Gespenster anlockt.
Der Naturforscher Karl von den Steinen zum Volksglauben der Cuyabá
(Berliner Publikationen)

Der in Mühlheim an der Ruhr geborene Karl von den Steinen (1855–1929) war psychiatrischer Mediziner, Ethnologe, Forschungsreisender, Amerikanist und Schriftsteller. Nach einer Weltumrundung 1879 bis 1881 und einer ersten deutschen Polarjahr-Expedition nach Südgeorgien 1882 bis 1883, unternahm er in den 1880er-Jahren mehrere Expeditionen nach Brasilien, wo er seine Forschungsbemühungen auch auf die sogenannten Naturvölker Zentralbrasiliens und deren kulturelle Erzählungen, Mythen und Legenden ausdehnte.

In einer in Berlin 1894 veröffentlichten Publikation mit dem Titel „Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens“ geht der Forschungsreisenden im Kapitel III zum „Volksglauben in Cuyabá“ – gemeint ist die Hauptstadt der damaligen brasilianischen Provinz und des heutigen Bundesstaates Mato Grosso in Zentralbrasilien – auch auf verschiedene mythologische Vorstellungen von übernatürlichen Wesen in der Region ein. Zum Thema Gespenster berichtet von den Steinen:

„Gespenster bevölkern hauptsächlich verlassene Ansiedelungen (Sitios). Durch Pfeifen bei Nacht werden sie in’s Haus gelockt. Nachts soll man keine Teller mehr aufwaschen, damit die Geister Essen finden, sondern erst am nächsten Morgen, wenn sie sich bedient haben.“

Als Gespenst bezeichnet der Volksglaube meist einen Totengeist mit übernatürlichen Fähigkeiten und zugleich menschlichen Eigenschaften, der aus unterschiedlichen Motiven in der Welt der Lebenden (Diesseits) Einfluss nimmt. In der Vorstellungswelt der von von der Steinen befragten, werden die Geister durch profane, unbewusste Handlungen wie das Pfeifen bei Nacht in den geschützten Bereich des Hauses gelockt. Durch Speisereste als Gaben können sie befriedet werden. Wer aber zu ordnungsliebend, nachdem er gegen das Gebot des Pfeifens verstoßen hat, auch noch unbewusst die Opfergaben durch das Waschen des Essgeschirrs beseitigt, erregt den Zorn der Geistergestalten.

Die Geister sind nach von den Steinens Bericht vornehmlich an aufgegeben Orten (Sitio, wörtlich aus dem Spanischen: Platz, Stätte) zu finden – als Manifestation vergangenen Lebens und fortdauernder Erinnerung an jenes. Oft sind die Erscheinungen an eine unerfüllte Aufgabe gebunden, die ihnen keine Ruhe lässt. Von den Steinen weiß in seinem Bericht von einer anekdotischen Begebenheit mit Gespenstererscheinungen zu erzählen:

„In einem Hause spukte es, Steine flogen in die Fenster, das Licht wurde verlöscht, alle Abende hörte man schlürfende Tritte, Thüren schlugen zu oder es wurde angeklopft und Niemand war da, wenn man öffnete.“

Eine Beschreibung, die man volkstümlich auch als Poltergeist bezeichnet. Von den Steinen fährt fort:

„Der Schwiegervater, ein Caboclo, fürchtete sich nicht vor dem Teufel und rief, als er in einer Nacht in dem Hause zu Besuch war und die Dinge miterlebte, laut: »Bruder, Schwester, wer es sei, lass die Familie in Ruhe und komm zu mir auf die Chacara (Landhaus) hinaus!« Anderntags setzte sich Einer neben ihn in die Hängematte; es war sein toter Bruder, der flehte, Juaninha, ihre Schwester, möge ihm ein Wort verzeihen, er könne keine Ruhe finden. Weinend eilte der Caboclo sofort nach dem Spukhause, Tante Juaninha weinte auch und verzieh; die arme Seele kam nicht wieder.“

Damit schließt der Naturforscher seinen Bericht über die ihm zugetragenen Geistersagen aus dem Volksglauben der Region Mato Grosso in Zentralbrasilien.

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Biographische Zusammenstellung / Autor: Johannes Gärtner
Lektorat: Daniel Funke

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Quellen:

  • Karl von den Steinen: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 554-556.
  • Anita Hermannstädter: Karl von den Steinen. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 25, Duncker & Humblot, Berlin 2013, S. 175–176.
    Marcos Machado Nunes: Curupira. In: Dominique Lanni (Hrsg.): Bestiaire fantastique des voyageurs, Paris 2014.
  • George M. Eberhart: Mysterious Creatures. A Guide to Cryptozoology. ABC-CLIO, 2002, S. 118.