Wie man einen Werwolf entlarvt.
Der Naturforscher Karl von den Steinen zum Volksglauben der Cuyabá
(Berliner Publikationen)

Karl von den Steinen (1855–1929) war psychiatrischer Mediziner, Ethnologe, Forschungsreisender, Amerikanist und Schriftsteller. Nach einer Weltumrundung und einer ersten deutschen Polarjahr-Expedition nach Südgeorgien, unternahm er in den 1880er-Jahren mehrere Expeditionen nach Brasilien, wo er seine Forschungsbemühungen auch auf die sogenannten Naturvölker Zentralbrasiliens und deren kulturelle Erzählungen, Mythen und Legenden ausdehnte.

In einer in Berlin 1894 veröffentlichten Publikation geht der Forschungsreisenden im Kapitel III zum „Volksglauben in Cuyabá“ – gemeint ist die Hauptstadt der damaligen brasilianischen Provinz und des heutigen Bundesstaates Mato Grosso in Zentralbrasilien – auch auf verschiedene mythologische Vorstellungen von übernatürlichen Wesen in der Region. Zum Thema Werwölfe und Lykanthropie berichtet von den Steinen:

„Von anämischen Leuten nimmt man häufig an, dass sie Freitag Nacht auf den Kirchhof gehen, Tote auswühlen und fressen. Sie verwandeln sich in einen ‚Lobis-homem‘.“

Der Begriff Lobisomem (aus dem portugiesischen Begriff für Wolf lopo und Mensch homem) stammt aus der Folklore Südamerikas und wird in europäischen Berichten dieser Zeit üblicherweise mit einem Werwolf gleichgesetzt, ähnelt in manchen Erzählungen aber auch einem Feuerball, der vornehmlich Frauen angreift. Die Verwandlung von Mensch zu Wolf vollzieht sich entweder an jedem Vollmond oder nur an Freitagen, an denen ein Vollmond zu sehen ist. Nach der Erzählung wird man auf drei Weisen zum Werwolf: Durch einen Werwolf-Biss, durch den Kontakt mit infiziertem Blut oder indem man der siebte Sohn einer Familie ist oder der erste Sohn einer Familie mit sieben Töchtern, in welchem Fall sich die erste Transformation am dreizehnten Geburtstag vollzieht, egal in welcher Phase der Mond steht. In seinem Bericht geht Karl von den Steinen weiter auf die Gestalt des Werwolfes ein:

„Dieser sieht aus wie ein grosser Hund, die Hinterbeine sind viel höher als die Vorderbeine, dabei läuft er — und zwar sehr schnell — mit (wie wenn man den Kopf auf den Ellbogen aufstützt) zum Ohr aufgeknickten Vorderbeinen. Es giebt schwarze, weisse, gelbe, je nach der Farbe des Menschen.“

Von der Entstehung eines Werwolfs kam dem Naturforscher nur die dritte Variante zu Ohren oder zumindest gab er nur diese in seiner Publikation an:

„Wenn eine Frau sieben Knaben zur Welt bringt, so wird der erste oder der letzte ein Werwolf. Er selbst kann nicht dafür, es ist sein Fatum. Er frisst Unrat in Bächen und Kanälen und bricht ihn als Mensch wieder aus, daher das bleiche, fahle Aussehen.“

Mehr weiß Karl von den Steinen von der Entzauberung zu berichten, die man erreicht, „1. durch einen Stich, der nur einen Blutstropfen zu entlocken braucht, 2. durch einen Hieb mit einem Bambusspan oder einem Messerchen (nicht einem grossen Messer), 3. durch einen Steinwurf.“ Allerdings, so fährt von den Steinen in seinem Bericht fort, sollte man sich vor dem Entzauberten in Acht nehmen, der „der geschworene Feind seines Befreiers [wird] und sucht ihn zu töten, indem er ihm gleichzeitig grosse Bezahlung zum Dank verspricht.“ Zum Thema, wie man einen Werwolf entlarven kann, publiziert von den Steinen eine ihm erzählte Anekdote:

„Jemand lud einen Mann, den er im Verdacht hatte [ein Werwolf zu sein], zu einem Schnäpschen ein: „quer matar um bicho?“ – wörtlich: wollen Sie einen Wurm töten) Als er gemütlich mit ihm allein war, kratzte er ihn plötzlich, wie man Hunde krault, hinter den Ohren. Wütend rannte der so Behandelte fort; er war also richtig erkannt.“

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Biographische Zusammenstellung / Autor: Johannes Gärtner
Lektorat: Daniel Funke

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Quellen:

  • Karl von den Steinen: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 554–556.
  • Anita Hermannstädter: Karl von den Steinen. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 25, Duncker & Humblot, Berlin 2013, S. 175–176.
    Mark Harris: The Werewolf in between Indians and Whites: Imaginative Frontiers and Mobile Identities in Eighteenth Century Amazonia. In: Tipití: Journal of the Society for the Anthropology of Lowland South America Nr. 11, 2013.